Schwindeltherapie

Volkskrankheit Schwindel

Dieser Artikel richtet sich an all diejenigen Patienten*, die  

  • sich einen Überblick über das Symptom Schwindel und seine verschiedenen Ursachen machen wollen und/oder
  • unter unklarem Schwindel leiden und sich über mögliche Erkläransätze informieren möchten (Achtung: Dieser Artikel ersetzt keinen Arztbesuch!)
  • sich über verschiedene Therapieoptionen informieren möchten

Nach Kopfschmerzen ist Schwindel der häufigste Grund für einen Arztbesuch; vor allem ältere Menschen sind betroffen (zu deren besonderer Gefährdung später mehr).

 

Wie entsteht Schwindel?

Dazu muss man wissen, dass drei sensorische Systeme übereinstimmende Informationen liefern müssen, damit Schwindelfreiheit besteht:  das visuelle System (Augen) , das vestibuläre System (Innenohr), das somatosensorische System (die Tiefensensorik mit den Tiefenmessfühlern  der kleinen Gelenke und Muskelspindeln).

Schwindel entsteht nun, wenn die Information auch nur eines (oder mehrerer) der o.g. sensorischen Systeme abweicht. Man spricht von einem Mismatch.

 

Innenohrbedingter Schwindel (peripher vestibulärer Schwindel)

Informationsabweichungen vonseiten des Innenohrs sind oft am deutlichsten für die Patienten spürbar, die Symptome entsprechend heftig (Drehschwindel) und die Diagnosenstellung vor allem für den HNO- Arzt recht einfach. Beispiele sind ein gutartiger Lagerungsschwindel und/oder ein Ausfall eines der Gleichgewichtsorgane (Neuropathia vestibularis).

Ein Repositionsmanöver im ersten Beispiel bzw. akut verabreichte Medikamente im zweiten Beispiel sind hier Mittel der Wahl. Im zweiten Beispiel lässt sich die Störung auch durch eine Messung der Untererregbarkeit  eines der Gleichgewichtsorgane messen und damit klar objektivieren.

 

Somatosensorischer Schwindel

Gibt es hingegen Störungen im somatosensorischen System und der Tiefenwahrnehmung (Propriozeption), dann muss der Arzt „zwischen den Zeilen lesen“.

Objektive Messwerte wie etwa Nystagmen (unwillkürliche Augenbewegungen, die reflexhaft  bei „Ohren-Schwindel“ infolge der Verschaltung Ohr zu Auge auftreten) oder die messtechnische Feststellung der Untererregbarkeit eines der Gleichgewichtsorgane in der kalorischen Vestibularisprüfung (Warm-/Kaltwasser- Spülung der Gehörgänge) fehlen dann.

Hierzu muss man wissen, dass Körperhaltung und Gleichgewicht des Menschen maßgeblich vom Nacken über die Propriozeptoren (Tiefenmessfühler) gesteuert werden, die in den Kopfgelenken und den tiefen Nackenmuskeln in 100-fach höherer Dichte als in anderen Gelenken vorhanden sind. (1)

* Es sind stets Personen männlichen und weiblichen Geschlechts gleichermaßen gemeint; aus Gründen der einfacheren Lesbarkeit wird im Folgenden nur die männliche Form verwendet.
 

Oftmals bestehen im Übergang zwischen Hals und Kopf im Bereich der kleinen Wirbelgelenke und der kurzen Nackenmuskeln oft eine Fehlfunktion und Dysbalance (Ungleichgewicht) (2,3,4). Diese äußern sich in Muskelhartspann, Druckschmerzen und Bewegungsstörungen. Dieser Zustand wird via afferenter (zuführender) Nervenbahnen in den Hirnnervenkerne des Hirnstamms geleitet:

Unter anderem befindet sich dort auch das Kerngebiet des Hör- und Gleichgewichtsnervs, was eine Schwindelwahrnehmung erklärt. Der Schwindelcharakter ist oft gänzlich anders, da nun eine funktionelle Störung der Tiefensensibilität gemessen wird (und nicht die Dreh-Empfindung einer „wie aus dem Gleichgewicht geratenen Waagschale“ wie beim Innenohrschwindel.) Die Pat. klagen eher über einen diffusen Schwankschwindel, Gangunsicherheit und Benommenheit. Man spricht hier von einem zervikogenen (von der Halswirbelsäule kommenden) Schwindel (Rezeptorenschwindel). (5)

Obwohl der zervikogene Schwindel umstritten ist, kann dieser in der Praxis nachgewiesen und behandelt werden. Entscheidend ist aber, dass andere Ursachen ausgeschlossen werden, die Ursache in der Halswirbelsäule eindeutig nachgewiesen oder der Schwindel reduziert werden kann (6).

Auslösend sind Lagewechsel, Kopfbewegungen (nach oben schauen, nach unten schauen) oder zum Beispiel Bücken. Diese Schwindelform ist oft weniger akut, dafür aber ist der Leidensdruck oft hoch, bedingt durch das lange Anhalten der Schwindelsymptomatik (chronischer Verlauf).

 

Therapieoptionen des zervikogenen Schwindels

Zunächst gilt auch hier wie sonst im Leben: wer rastet, der rostet.

D.h. wichtig sind regelmäßige Bewegung zur Kräftigung der Muskulatur und Training der Koordination. Spezielle auf den Schwindel zugeschnittene Übungen ergänzen das Bewegungsprogramm. Physiotherapie kann ebenso zur vestibulären Rehabilitation beitragen.

Eine bewährte Behandlung bietet die Akupunktur **, hier speziell unter Hinzuhilfenahme der Mikroakupunktsysteme Ohr und Mund.

 

Was sind Mikroakupunktsysteme (MAPS)?

Es handelt sich um Körperareale, auf denen sich der ganze Organismus auf kleinster Fläche in Form reaktiver Punkte mit festem Bezug zur Körpertopographie und Körperfunktion repräsentiert(7). 

Ohrakupunktur**: Auf dem HNO- Weltkongress in Budapest 1981 präsentierten die HNO- Ärzte R. und D. Pildner v. Steinburg eine Studie mit 100 Patienten mit dem Titel „Die zentrale vestibuläre Dysfunktion“. Die zu behandelnden Punkte liegen auf einer speziellen Linie („von Steinburg´sche Schwindellinie“). Fazit: Von den 100 auf dieser Art behandelten Patienten waren 74% bereits nach drei Sitzungen völlig beschwerdefrei( publiziert in „HNO heute“, Band3, 1982).

Diese Erfahrung kann ich, wie auch viele praktische tätige ärztliche Kollegen, bestätigen.(8)

Hinzugenommen werden die jedem Akupunkteur bekannten Anthelixpunkte nahe der postantitragalen Furche, um die HWS- Strukturen zu behandeln.

** große Doppelblindstudien zur Akupunktur, insbesondere die Indikation Schwindel betreffend, fehlen noch (fehlende externe Evidenz). Die klinischen Erfahrungen (interne Evidenz) sind hingegen gut.

Mundakupunktur**: zunächst sei anzumerken, dass sich infolge der Aspirationsgefahr  Nadeln hier verbieten; der Nadelreiz wird quasi imitiert durch die schmerzlose (!) Injektion von schwachprozentigem Lokalanästhetikum in die Schleimhaut (intramukosal), anschließend wird die Quaddel einmassiert. Dr. med. Gleditsch, HNO- und Zahnarzt, Ehrenpräsident der deutschen Gesellschaft für Akupunktur, hat sich um diese Methode besonders verdient gemacht. Der Autor dieses Artikels kam  in den Genuss, Meisterkurse bei ihm zu besuchen.

Die Resultate der Mundakupunktur können sich wirklich sehen lassen; die Mundakupunktur vermag vor allem die tiefe kurze HWS- Muskulatur (das „tiefe Nackenrezeptorenfeld“) funktionell zu erreichen und zu entspannen (Retromolargebiet unten). Liegt zusätzlich noch eine durch nächtliches Zähnepressen und Zähneknirschen bedingte craniomandibuläre Dysfunktion(CMD) vor, so lässt sich die verspannte innere Kaumuskulatur vortrefflich lösen, indem die Schleimhautpunkte in Projektion auf den aufsteigenden Unterkiefers gequaddelt werden.

Ziel ist es insgesamt, die krankhaften Reflexbögen von der Halsnackenregion zu den Hirnnervenkernen zu beseitigen.

 

Multimodaler (multifaktorieller) Schwindel „Altersschwindel"

Diese Art des Schwindels, früher uncharmanterweise als Altersschwindel bezeichnet, nimmt seinen Ursprung in verschiedenen Störungen:
es kommt zu einer neuronalen Degenerationen (Rückbildung und Verfall von Nervenzellnetzwerken) im vestibulären System( Innenohr, Gleichgewichtsnerv, Hirnstammnervenkerne!) 

somatosensorischen System (propriozeptiven System, vor allem der HWS!)nachlassender Visus (d.h. visuelles System ist betroffen, vgl. Einleitung s.o.)nachlassende Anpassungsfähigkeit im Herz- Kreislauf- System (d.h. internistischer Schwindel)

Die Probleme liegen nun auf der Hand: Die einzelnen Störungen addieren sich in ihrer Wirkung und führen zu Verunsicherung und Angst der Senioren. 

Eventuell hat sich das mit Schwindel einhergehende erhöhte Sturzrisiko bereits materialisiert, was die Angst zum Beispiel vor einem erneuten Sturz schürt.

 

Ein Teufelskreis entsteht
Schwindel ——-> Angst ——-> Vermeidung und Immobilität ——-> Schwäche, fehlende sensorische Reize ——> Schwindel (9)

Einer neuen epidemiologischen Studie zufolge , die an der Harvard Medical School in Boston durchgeführt wurde, ist das Mortalitätsrisiko bei Altersschwindel (9%) vergleichbar hoch wie bei Herz- Kreislauf- Erkrankungen (10,5%) und Diabetes mellitus (9,8%).

Menschen ohne Schwindel wiesen eine nur verhältnismäßig geringe Mortalitätsrate von 2,6% auf (10).

 

In einer aktuellen Querschnittsanalyse lag das Sterblichkeitsrisiko für Schwindelpatienten um 70% über dem Risiko von schwindelfreien Personen (11).Daher ist es meine Prämisse, dem Schwindelpatienten, vor allem den älteren Menschen, eine besonders hohe Aufmerksamkeit zu schenken. 

Bitte bagatellisieren Sie Ihre Symptome nicht als Begleiterscheinungen des normalen Alterungsprozesses, wie es viele Patienten, leider auch Ärzte, teilweise tun (11).

Ein Sturz mit Oberschenkelhalsbruch kann der Anfang vom Ende sein…

 

Therapieoptionen des Altersschwindels

Hier gilt das oben gesagte im Prinzip auch (somatosensorisches Training, Physiotherapie, Akupunktur). Zudem lässt sich insbesondere bei den Senioren unterstützend ein Medikament einsetzen, das sowohl die peripheren als auch zentralen Störungen lindert. Es handelt sich um die Fixkombination aus Cinnarizin (hemmt die Reizaufnahme an den Innenohr-Sinneszellen) und Dimenhydrinat (moduliert die Reizverarbeitung im verlängerten Rückenmark).

Welche Therapiebausteine man wie gewichtet, muss individuell abgestimmt werden. Ein Patienten mit Nadelphobie verträgt verständlicherweise keine Akupunktur.

Patienten, bei denen jedoch Gegenanzeigen bezüglich der o.g. Medikamenten-Fixkombination bestehen (z.B. Engwinkelglaukom, Prostatahyperplasie mit Restharnbildung, Epilepsie, akutes Asthma bronchiale und vieles mehr) oder das Medikament nicht vertragen wegen Nebenwirkungen kann gut mit einer Kombination aus Übungen und Akupunktur geholfen werden. 

Daher ist ein Arztbesuch und die Ausarbeitung einer maßgeschneiderten Therapie unerlässlich. 

 

 

Literaturverzeichnis:

1. forum HNO 18/2016, H Sauer, Akupunktur interdisziplinär- ganzheitliche Aspekte bei Tinnitus und Vertigo
2. Hölzl, M (2013): Roundtable: Kontroverses in Diagnostik, Therapie und Begutachtung der HWS. 97. Jahrestagung der Vereinigung Südwestdeutscher HNO- Ärzte, Ludwigshafen am Rhein, 27. und 28. September
3. Seifert K (1995): Funktionelle Störung der Halswirbelsäule: In: Herberholdt C(Hrsg): Oto-Rhino-Laryngologie in Klinik und Praxis, Band 3, Thieme, Stuttgart, New York
4. Scherer (1985): Halsbedingter Schwindel. Arch Otorhinolaryngol (Suppl II), 107
5. H Sauer (2014): “ HWS- Schwindel“ und zervikogener Rezeptorenschwindel (ZRS), Synopsis aus 40jähriger HNO- Erfahrung. 
6. S Schädler (2019): Ratgeber Schwindel, S. 14
7. www.daegfa.de , MAPS- Mikroakupunktsysteme
8. J Gledisch, Akupunktur in der HNO- Heilkunde, S.108
9. S Schädler (2019), Ratgeber Schwindel S. 7, Teufelskreis aus Schwindel, Vermeidungsverhalten und den Folgen
10. Corrales CE, Bhattacharyya N. Laryngoscope 2016; 126: 2134-2136
11. G Girrbach, Schwindel im Alter: Die Abwärtsspirale rechtzeitig durchbrechen, aus: Geriatrie-Report 14, 50 (2019)